Wenn es um Ungleichheiten im Umgang mit Technologie und digitalen Bildungsangeboten geht, ist es dringend notwendig, pädagogische und bildungsinformatische Expertise stärker ins Spiel zu bringen und das nicht als ein rein technisches Thema zu verhandeln.
Dr. Christoph Richter

Ungleichheit in der digitalen Bildung kann auf vier Ebenen stattfinden

Ob es im Bereich der digitalen Bildung besondere Formen von Ungleichheit gibt, ist eine medienpädagogische Schlüsselfrage, die sehr ausgiebig erforscht wird. Es werden mittlerweile vier Ebenen¹ unterschieden, die sich auch auf Mein Bildungsraum anwenden lassen:

  • First Level Divide

    Hier geht es um Unterschiede im Zugang zu digitalen Bildungsangeboten und damit verbundenen Hürden. Im Fall von Mein Bildungsraum muss hier nicht zuletzt die Einbindung von kommerziellen und nicht-kommerziellen Angeboten in den Blick genommen werden. Wenn kommerzielle Anbieter*innen kostenpflichtige Inhalte oder Zusatzangebote einstellen, entstehen neue Zugangshürden. Müssen einzelne Nutzende, z. B. Schüler*innen, für die Kosten aufkommen, oder übernimmt das die Schule? Governance spielt hier eine entscheidende Rolle: Inwiefern wird regulierend versucht, Einfluss auf die Faktoren zu nehmen, die Ungleichheit verstärken.

  • Second Level Divide

    Hinzu kommen Ungleichheiten, die durch unterschiedliche Formen des Umgangs mit digitalen Bildungsangeboten entstehen. Welche Angebote sind auf Mein Bildungsraum auffindbar, welche Art von Lernen soll unterstützt werden? Viele Angebote setzen selbstorganisierte, intrinsisch motivierte Lernende voraus. Dies trifft aber nicht auf alle Lernenden zu. Hier stellt sich auch die Frage, wie stark die Angebote an die Lebenswelt der Lernenden mit ihren unterschiedlichen Biografien andocken. Hierzu bedarf es auch einer geeigneten pädagogischen Begleitung.

  • Third Level Divide

    Bei der dritten Ebene geht es um Ungleichheiten, die durch die Nutzung digitaler Bildungsangebote entstehen. Das bedeutet, wer die digitalen Angebote nicht nutzt, hat möglicherweise Nachteile. Dieser Aspekt spielt bei Mein Bildungsraum etwa dann eine Rolle, wenn im Rahmen digitaler Bildungsangebote Kontakte zwischen Lernenden und Unternehmen bspw. für Praktika, Ausbildungsplätze oder Jobs vermittelt werden, wie es das Geschäftsmodell einiger Firmen ist. Es stellt sich die Frage, wer hier Angebote machen darf und unter welchen Bedingungen.

  • Zero Level Divide

    Mit der Verbreitung von maschinellem Lernen, Big Data und KI spielen Ungleichheiten eine Rolle, die in der Technologie selbst angelegt sind. Dies betrifft nicht nur personalisierte Suchfunktionen, wie etwa den geplanten Lernpfadfinder*, sondern alle Bildungsangebote, die sich entsprechender Verfahren bedienen, um beispielsweise Inhalte zu personalisieren, Eingaben der Lernenden zu analysieren oder Rückmeldungen zu generieren. Auf dieser Ebene bedarf es einer grundlegenden Diskussion darüber, inwiefern entsprechende pädagogische Kernprozesse in verantwortungsvoller Weise automatisiert werden können und sollten.

    *Anmerkung der Redaktion: Der Datenraum, innerhalb dessen der Lernpfadfinder angelegt worden wäre, wird vorerst nicht von der SPRIN-D weitergeführt. Daher ist abzuwarten, inwiefern sich dieser zukünftig noch entwickeln wird.

Mein Bildungsraum bräuchte eine partizipative Infrastruktur

Generell bleiben in Bezug auf Mein Bildungsraum viele Fragezeichen. Es besteht die Gefahr, dass durch eine entsprechende Infrastruktur bestehende Bildungsungleichheiten weiter verschärft statt reduziert werden. Das Projekt wirkt wie eine Art „Ausweichhandlung“, um sich nicht mit den strukturellen Gründen für Bildungsungleichheit auseinandersetzen zu müssen. Idealerweise müsste Mein Bildungsraum eine Infrastruktur besitzen, die partizipative Lern- und Bildungsformate unterstützt: Sind Lerninhalte so angelegt, dass Nutzende sich gemeinsam mit bestimmten Fragen auseinandersetzen können? Die kollaborative Wikipedia ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel.

Für die Zukunft von Mein Bildungsraum würde ich mir mehr Verwirklichungsmöglichkeiten für das Erlernen eines digitalen Miteinanders wünschen. Hierbei sollten Kinder und Jugendliche eine aktive Rolle in der Gestaltung einnehmen können.
Dr. Christoph Richter

Es braucht mehr Bildung durch Teilhabe

Vorstellbar wäre eine Struktur, in der mit pädagogischer Anleitung vermehrt selbstorganisierte Lern- und Bildungsformate entstehen – Bildungsangebote, die Bürger*innen für- und miteinander gestalten. Solche Formate wären vor allem angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen wünschenswert. Darin liegt ein Auftrag für öffentliche Institutionen: Bildung durch Teilhabe als gemeinsamen Lernprozess zu rahmen und zu unterstützen.

1 Kutscher, N., & Iske, S. (2021). Diskussionsfelder der Medienpädagogik: Medien und soziale Ungleichheit. In U. Sander, F. von Gross, & K.-U. Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik (S. 1–12). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25090-4_80-1

1 Van Dijk, J. (2020). The digital divide. Polity Press.