Z

Zukunft

“Ideal wäre eine Live-Community, in der man Fragen stellen kann, als neue soziale Komponente.” Welche Ideen gibt es zur Weiterentwicklung der Wikipedia als bedeutendster Wissensbasis der Welt? Und was bedeutet digitales Ehrenamt für die Wissensgesellschaft und das Internet-Ökosystem von heute und morgen?

  • Gemeinwohl
  • Communitys
  • Gerechtigkeit

Status quo vadis

  • Sascha Lobo

Ein Interview mit Sascha Lobo

Was ist die Wikipedia in Ihren Augen?

Ein Wissensnetzwerk. Und dieses Netzwerk erlaubt es einem, in bestimmte Bereiche einen Einblick zu bekommen, der mit überragend großer Wahrscheinlichkeit nah an dem ist, was wir als Wirklichkeit empfinden. Das ist Wikipedia. Sowohl für Recherche- als auch für Verständniszwecke ein hervorragendes Einstiegs-Wissensnetzwerk. Diese Verwendung führt viele Implikationen mit sich. Eine ist, dass man natürlich nicht darauf vertrauen kann – wie bei allen anderen Quellen auch – dass es zu 100 Prozent stimmt, wenn dort steht: „Peter ist der Sohn von Max“. Mit jeder Information auf Wikipedia ist ein Rechercheauftrag verbunden: Aha, Peter könnte mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit der Sohn von Max sein. Da schau ich noch mal, ob ich andere Quellen finde. Diese Mechanik muss man verinnerlicht haben, sonst läuft man Gefahr, Wikipedia falsch zu verwenden.

Ist Wikipedia eine taugliche Quelle für Publizierende? Oder verschweigt man besser, dass man sie benutzt?

Für meine publizistischen Werke spielt Wikipedia eine absolut zentrale Rolle. Leute, die sich darüber lustig machen, wissen vermutlich einfach nicht, wie man sie richtig verwendet. Das ist, als würde man sich darüber mokieren, dass man mit einem Schraubenzieher keine Nägel in die Wand schlagen kann. Wikipedia zählt für mich zu den ganz großen Erfolgsgeschichten der digitalen Vernetzung. Ich verlinke darauf in meinen Kolumnen von Beginn an, seit über zehn Jahren, auf Deutsch oder Englisch. Weil das in vielen Fällen – und das ist eben der Verwendungshorizont – ein Einstieg ist, um sich ein Thema selbst näher zu bringen. Die richtige Verwendung ist zuallererst verbunden mit einem Grundverständnis, was die Wikipedia alles ist – und was sie nicht ist. Und zwar aus Nutzerinnen- und Nutzer-Sicht. Aus dieser Perspektive ist sie mehr als ein Lexikon, auch wenn das gern als Hilfsbegriff benutzt wird.

Die Wikipedia ist in ihrem Konzept unique. In anderen Bereichen ist nichts Vergleichbares entstanden.“

Sascha Lobo

Was bedeutet Wikipedia für die digitale Wissensgesellschaft und das Internet-Ökosystem von heute und morgen?

Vor fünf Jahren hätte ich diese Frage noch anders beantwortet als heute. Für mich bedeutet Wikipedia inzwischen ein Modell, das mit den großen Themen Information, Wissen und Erkenntnis – der Trias der Weltwahrnehmung – das gegenwärtig Beste aus der digitalen Vernetzung rausholt. Vor fünf Jahren hätte ich allerdings gedacht, dass sich das reproduzieren ließe. Im Moment bin ich der Meinung, dass die Wikipedia in ihrem Konzept unique ist. In anderen Bereichen ist nichts Vergleichbares entstanden. Es gibt zum Beispiel im Bereich Wissenschaft und Forschung jede Menge Plattformen, die ebenfalls Wissen vermitteln, beziehungsweise entfernt ähnlich funktionieren. Aber die Art und Weise, wie Wikipedia das macht – unter intensiver Einbeziehung einer Öffentlichkeit, auch bestimmter Aktualitätsformen und selbstgegebener Regeln, mit einer tiefen Integration des Mindsets digitales Ehrenamt – das sehe ich so woanders nicht.

Wie schätzen Sie die Bedeutung des digitalen Ehrenamts in der Zukunft ein?

Ich kann nur für Deutschland sprechen: Das digitale Ehrenamt muss sich im Wikipedia-Kontext unbedingt weiterentwickeln. Ich glaube, dass die Wikipedia-Community ein großes Problem hat: nämlich, dass sie vergleichsweise ausschließend wirkt. Das beginnt mit der noch immer gruseligen Usibility, die einer Vielzahl von Erkenntnissen widerspricht, die man in den vergangenen 20 Jahren eigentlich gewinnen konnte. Es gab ja zwar immer wieder konzeptionelle Weiterentwicklungsversuche, die aber höchstens in homöopathischer Dosis umgesetzt wurden. Das liegt meiner Meinung nach an Community- und Abstimmungsmechanismen. Und wenn wir von Community sprechen: Da ist Digitales Ehrenamt eher ein Hilfsbegriff. Eigentlich müsste es Geld dafür geben, dass Leute Wikipedia vollschreiben – aber nicht bezahlt von Wikimedia, sondern es bräuchte staatliche Stipendien dafür, dass man sich sachkundig an Wikipedia beteiligt.

In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche Bemühungen, europaweit gültige Regeln für den digitalen Raum zu schaffen. Wie ließe sich gewährleisten, dass sich gute Bedingungen für ein freies Netz auch in Zukunft entfalten können?

Die Konzepte liegen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten vor. Das heißt nicht, dass ich alle Lösungen parat hätte. Aber in vielen Bereichen könnten wir uns schon vorstellen, in welche Richtung es gehen soll. Das fängt damit an, die Netzneutralität stärker zu garantieren, als es bisher der Fall ist. Der zweite Punkt: Man muss ein besseres Verständnis gewinnen, was Datenschutz eigentlich ist und wie Datenschutz funktioniert. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) wird von vielen Leuten gefeiert, auch von der EU selbst – weil sie sie auf den Weg gebracht hat. Aber an dem Tag, als Facebook die Zustimmung zur DSGVO von den Nutzerinnen und Nutzern eingefordert hat, wurde gleichzeitig abgefragt: Können wir bitte dein Foto in unsere automatische Gesichtserkennung einspeisen? Wer Facebook weiter nutzen wollte, musste im Prinzip Ja klicken. Das ist für mich ein Symbol dafür, dass es mit der DSGVO noch nicht so ganz funktioniert. Und „nicht so ganz“ heißt im Kontext Facebook oder Google: zero.

„Ideal wäre eine Live-Community, in der man Fragen stellen kann – als neue soziale Komponente.“

Sascha Lobo

Wo sehen Sie die Politik am Zuge?

Meine große Forderung rekurriert darauf, dass ich keine Generallösung habe: Wir sollten dringend herausfinden, wie wir Plattformen regulieren können. Das ist der Kernpunkt, dafür müsste europaweit eine aus allen Blickrichtungen diverse Versammlung einberufen werden – besetzt mit Menschen aus allen möglichen gesellschaftlichen Kontexten, mit allen möglichen Hintergründen. Dass es bei der Plattformregulierung hakt, erkennt man unter anderem daran, dass fast immer das Wettbewerbsrecht bemüht wird, wenn Strafen an Google oder Facebook weitergegeben werden sollen. Auch in Fällen, in denen relativ klar ist, es geht nicht um Wettbewerbsrecht. Das ist für mich ein Symptom: Wir haben nur ein Instrument – eigentlich brauchen wir viel bessere und viel präzisere.

Was wäre ein Worst-Case-, was ein Best-Case-Szenario für die Entwicklung von Wikipedia in den kommenden zehn oder zwanzig Jahren?

Das Worst-Case-Szenario wäre, dass Wikipedia implodiert. Aus verschiedenen denkbaren Gründen, zum Beispiel, weil es community-seitig auseinanderbricht oder weil sich nicht mehr genügend Menschen finden, die überhaupt mitmachen wollen. Dann wäre Wikipedia eine Art Digitalruine, die man noch halb nutzen kann, die aber an Verlässlichkeit verliert. Ich glaube aber nicht, dass das passieren wird. Das positive Szenario ist komplizierter. Weil mir nicht klar ist, ob man Wikipedia dramatisch weiterentwickeln müsste, um zum Beispiel audiovisuelle Medien besser einzubauen. Um die Social Experience zu verbessern, neue Features einzuführen. Ideal wäre eine Live-Community, in der man Fragen stellen kann, als neue soziale Komponente – Wikipedia ist ein Wissensschatz, vielleicht sind Menschen aus verschiedenen Fachgebieten online. Oder ist es vielleicht das Beste, wenn Wikipedia die Funktion, die sie jetzt hat, weiter verstärkt, weiter verbessert, aber den Kern beibehält? Beides kann ich mir gut vorstellen.

Weitere Infos:

Sascha Lobo

Sascha Lobo ist Autor, Kolumnist, Strategieberater und Redner. Er ist einer der bekanntesten Denker und Kommentatoren zu Digitalisierung und Gesellschaft. Lobo prägte die vernetzte Gesellschaft in verschiedener Weise, u.a. etablierte er 2006 zusammen mit Holm Friebe die Verwendung des Begriffs „Digitale Bohème“ im Deutschen und hielt legendäre Vorträge auf der re:publica. In seiner Spiegel-Kolumne erscheinen zeitdiagnostische Befunde zu Politik und Digitalisierung.

Das Engagement von heute und morgen

  • Katarina Peranic
    Katarina Peranić

Ein Interview  

Im Netz findet sich ein regelrechtes Ökosystem an ehrenamtlichem Engagement. Von Freifunk über die Wikipedia-Community bis hin zur digitalen Nachbarschaftshilfe, um nur einige zu nennen. Wie schätzen Sie deren sich entwickelnde Bedeutung ein – in Bezug zum klassischen analogen Ehrenamt?

Zunächst einmal finde ich es gut, die beiden Bereiche zusammenzudenken. In der Vergangenheit wurden hier gern Gegensätze konstruiert: auf der einen Seite die Online-Volunteers, auf der anderen diejenigen, die vor Ort sind. Das war aber schon immer ein Scheingegensatz. Tatsächlich sind es zwei sich unterstützende Ökosysteme, die sich immer mehr annähern und miteinander verschmelzen. Grundsätzlich ist doch die Frage: Warum engagiert man sich überhaupt? Weil man – das wäre das ganz hehre Ziel – ein gesellschaftliches Problem lösen will, weil man Lust hat, mit anderen etwas auf die Beine zu stellen und dabei selbst viel zu lernen, Fertigkeiten und soziale Kompetenzen zu erlangen. Oder weil man daran glaubt, dass man etwas zurückgeben sollte, wenn es einem selbst gut geht. Bei all dem spielt es keine Rolle, ob das Engagement analog oder digital stattfindet. 

„Wenn man über Ehrenamt und Engagement in Deutschland redet, dann spricht man eben über eine sehr vielfältige, diverse Gruppe: 30 Millionen Menschen sind engagiert, es gibt 600.000 Vereine.“

Gibt es in beiden Bereichen genügend Nachwuchs? 

Die Bundesregierung hat einen Engagement-Bericht in Auftrag gegeben, dessen dritte Ausgabe im vergangenen Jahr erschienen ist. Darin wird genau diese Frage untersucht: Wie sieht es eigentlich mit dem jungen Engagement aus? Aus dem Ehrenamtsbereich sind ja immer wieder Klagen zu hören, dass man Probleme mit dem Nachwuchs habe. Und es gibt das Vorurteil, dass sich junge Menschen weniger engagieren als ältere Menschen. Dieser Bericht gelangt zu einer ganz anderen Erkenntnis: Junge Menschen engagieren sich sehr wohl zu einem hohen Prozentteil – allerdings kurzfristiger. Da ist ein digitales Ehrenamt manchmal einfacher für den Einstieg als ein auf Dauer angelegtes klassisches Amt wie zum Beispiel Kassenwartin eines Vereins. Junge Menschen unterscheiden zudem auch nicht so stark, ob sie Online-Marketing oder Social-Media-Community-Management für ihren Verein machen oder vor Ort sind, wenn eine analoge Veranstaltung stattfindet. Die Bereiche befruchten sich gegenseitig.

Braucht es in Ihren Augen ein Ehrenamtsregister als staatliche Plattform, um die große Bereitschaft für Engagement im Netz bestmöglich zu unterstützen?

Seit vielen Jahren wird diskutiert, ob es so etwas braucht, sei es auf Bundesebene und/oder betrieben von einem staatlichen Akteur. Tatsächlich existiert eine Vielzahl von Engagementbörsen oder Engagementdatenbanken. Allein online gibt es rund 350 sehr unterschiedliche Angebote. Mal sind es Apps, mal Plattformen, mal werden die Daten über eine lokale Freiwilligen-Agentur eingespeist, mal gibt es ein Community-Management dazu. Wenn man über Ehrenamt und Engagement in Deutschland redet, dann spricht man eben über eine sehr vielfältige, diverse Gruppe: Rund 30 Millionen Menschen sind engagiert, es gibt 600.000 Vereine. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welchen Aufwand es bedeuten würde, die alle auf einem zentralen Ehrenamtsregister à jour zu halten. Viel spannender ist doch die Frage: Welche Formen von digitaler Engagement-Vermittlung und Bedarfserhebung sind so aufgestellt, dass sie eine Wirkung erreichen?  

Woran ließe sich die Wirkung messen?

Daran, ob die Hilfen auch wirklich dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Wann immer Ereignisse plötzlich über uns hereinbrechen – sei es eine Flutkatastrophe oder aktuell die Corona-Pandemie – entstehen sofort neue Plattformen. Wir konnten das bereits 2015/2016 beobachten, als viele Menschen im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise nach Deutschland gekommen sind. Sehr schnell waren 83 Engagementbörsen entstanden, um Geflüchteten zu helfen. Es gab gar nicht so viele Geflüchtete, die davon wussten, dass sie dort ihre Bedarfe anmelden konnten. Aber es gab sehr viele Menschen, die Lust und Energie hatten, so eine Plattform aufzubauen. Man muss identifizieren, welche Angebote gut funktionieren – und diese so unterstützen, dass sie wachsen können und bekannt werden. Und genau so sollte man kleine Communitys belassen, die einfach gut in ihrer jeweiligen Nische wirken. Was es aber tatsächlich nicht gibt, das ist eine Anlaufstelle für Menschen, die sich digital engagieren wollen. Es lohnt sich, nachzudenken, welche Akteure hier unterstützen könnten.

„Generell sollte Politik mehr auf die Zivilgesellschaft hören: Welche Forderungen es gibt und welche Bedarfe. Die Leute vor Ort wissen am besten, was sie brauchen.“

Welche Rolle spielt der Aufbau von digitalen Wissenscommunitys für Engagement und Ehrenamt in Zukunft?

Aus meiner Perspektive eine große. Nicht nur das Engagement ist divers. Es gibt auch sehr verschiedene Engagementbereiche: den Sport, wo sich die allermeisten engagieren, Kultur, Soziales und Umwelt. An allen Ecken und Enden entsteht Wissen, und überall entstehen Projekte – aber häufig ist es so, dass viel Zeit und viele Ressourcen in die Entwicklung gleicher Dinge investiert werden. Aus meiner Erfahrung ist es bereichernd, diese unterschiedlichen Menschen in den Dialog und in einen Wissensaustausch zu bringen, damit sie voneinander lernen und ihre Kräfte bündeln können. Da braucht es viel mehr Formate und Akteure, die bereit sind, ihr Wissen zu teilen, zum Beispiel auf Veranstaltungen wie Barcamps. Die Stiftung Bürgermut mit openTransfer ist da sehr engagiert, auch Wikimedia ist natürlich ein riesiger Player auf diesem Feld. 

Was kann Politik an Rahmenbedingungen für eine gute Zukunft des digitalen Ehrenamts setzen?

Die Politik ist durchaus ein starker Förderpartner, was Engagement und Ehrenamt angeht. In den vergangenen Jahren sehe ich da einen großen Sprung nach vorn. Es gibt mittlerweile einen Prototype Fund, der über die Open Knowledge Foundation abgebildet wird. Das Projekt Freifunk, das freie Kommunikation in digitalen Netzen aufbaut, ist endlich in die Familie der Gemeinnützigkeitszwecke aufgenommen worden. Auch das zählt für mich zu Rahmenbedingungen, die geschaffen werden müssen. Generell sollte Politik mehr auf die Zivilgesellschaft hören: Welche Forderungen es gibt und welche Bedarfe. Die Leute vor Ort wissen am besten, was sie brauchen.

Weitere Infos:

Katarina Peranic

Katarina Peranić

Katarina Peranic ist Vorständin der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Bis 2020 war sie geschäftsführende Vorständin der Stiftung Bürgermut. Die zertifizierte Stiftungsmanagerin (DSA) und Politikwissenschaftlerin begleitet seit mehr als zehn Jahren Projekte in Zivilgesellschaft und Politik. Dabei spielen der Aufbau von analogen und digitalen Wissens-Communitys eine zentrale Rolle.