Ein starkes politisches Signal

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:JB_2022_eu.png

Ein Gespräch mit Christian Humborg, einem von zwei Geschäftsführenden Vorständen von Wikimedia Deutschland, über den neuen Zusammenschluss Wikimedia Europe, an dem 22 europäische Mitgliedsorganisationen beteiligt sind.

Warum ist es wichtig für die Wikimedia-Bewegung, sich auch auf europäischer Ebene einzubringen?

Christian Humborg: Zunächst mal sind wir eine weltweite Bewegung, deswegen ist es Teil unserer DNA, international zu denken. Die Grenzen, mit denen wir es in unseren Kontexten zu tun haben, sind meist keine geografischen, sondern sprachliche. Die Wikipedien sind schließlich nach Sprachen organisiert, nicht nach Ländern. Generell sehe ich – wenn heute die Entscheidung lauten sollte: Europa oder Deutschland? – diejenigen unter Begründungszwang, die nicht Europa wählen. Europa ist die politische Zukunft. Und wenn wir Freies Wissen in einer freien Welt schaffen wollen, ist Europa genau der richtige Ort.

Bisher war die Interessenvertretung in Brüssel die Free Knowledge Advocacy Group Europe (FKAGEU). Wie war sie aufgestellt?

Die FKAGEU hat viele Jahre lang mit zwei Mitarbeitenden in Brüssel sehr erfolgreich die Interessen der Mitglieder unseres Movements vertreten und eine große Bandbreite an Themen abgedeckt: Sei es die Auseinandersetzung um Netzneutralität, die Frage der Plattformregulierung, aber auch speziellere Themen wie die Panoramafreiheit. Wir müssen anerkennen, dass bei den Themen, die für uns wichtig sind, inzwischen mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene als im nationalen Rahmen getroffen werden. Wenn wir politische Entscheidungen in unseren Themenfeldern beeinflussen wollen, müssen wir dort auch ansetzen. Wenn europäische Gesetze in nationales Recht überführt werden, ist es bisweilen zu spät, noch etwas zu bewirken.

Was hat den Impuls zur Gründung von Wikimedia Europe gegeben?

Zunächst ist es für die Politikschaffenden vor Ort klarer, von Wikimedia adressiert zu werden, als von einer Organisation mit dem Kürzel FKAGEU. Aber entscheidender ist natürlich die grundsätzliche Idee: Zum einen haben wir mit Wikimedia Europe eine eigene Körperschaft geschaffen, die sich als Interessenvertreterin in Brüssel registriert hat und damit auch berechtigt ist, europäische Fördermittel zu akquirieren, was bisher nicht möglich war. Und zum anderen gibt es nun vor Ort eine formale Governance-Struktur, die festlegt, wie Entscheidungen gefällt werden und wer Mitglied von Wikimedia Europa ist. Damit haben wir einen Professionalitätsgrad erreicht, der es uns erlaubt, noch stärker aufzutreten und zu agieren.

Wie verlief der Gründungsprozess?

Gespräche darüber, Wikimedia Europe ins Leben zu rufen, gibt es schon seit Jahren. 2021 ist der Knoten geplatzt, als eine Gruppe von Mitgliedsorganisationen beschlossen hat, das Projekt konkret voranzutreiben. Wikimedia Deutschland zählte dazu, aber auch Wikimedia Schweiz, Österreich, Niederlande, Frankreich und weitere. Ein Beschluss war: Wir gründen Wikimedia Europa, wenn mindestens sechs Affiliates mitmachen. Sechs – das war auch die Gründungszahl der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Ende der 1950er-Jahre. Schlussendlich haben sich 22 Organisationen beteiligt. Die ursprünglichen Erwartungen wurden also weit übertroffen.

Wie sahen die nächsten Schritte aus?

In einer Reihe von Videokonferenzen haben wir dann geklärt, wie unsere Satzung aussehen und wo der Sitz der Organisation liegen soll, wer Mitglied sein kann und welche Themen wir gemeinsam bearbeiten wollen. Bis wir zu dem Punkt gekommen sind, bei den Behörden des belgischen Königs die Zulassung beantragen zu können. Der formale Sitz unserer Organisation ist in Brüssel, die jährlichen Mitgliederversammlungen finden in Prag statt. Gerade osteuropäische Affiliates haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Brüssel nicht im Herzen von Europa liegt. So haben wir einen guten und praktischen Kompromiss gefunden.

Wodurch gewinnt Wikimedia Europe Wirkmacht?

Man muss anerkennen, dass in der heutigen Zeit erst einmal der Name Wirkmacht hat. Ein Auftritt als Wikimedia Europe ist ein starkes politisches Signal – weil davon die Region in der Welt abgedeckt wird, die besonders für das Streben nach Freiheit und Demokratie steht, wie ja auch die Europäische Union.

Wie lauten die politischen Prioritäten in Brüssel?

Wichtige Themen werden immer Netzneutralität, Urheberrecht und Meinungs- und Informationsfreiheit bleiben, auch die Plattformregulierung – dabei geht es stets darum zu schauen, dass die Wikipedia nicht vergessen wird. Europäische Politikschaffende haben meist Facebook, TikTok oder Instagram vor Augen, wenn es um Plattformen geht – und vergessen darüber oft, dass verabschiedete Regelungen auch von den Ehrenamtlichen der Wikipedia erfüllt werden müssen. Ein weiterer Punkt sind die Digital Commons, also die Frage, wie wir den öffentlichen Raum im Digitalen erhalten und vergrößern können, zu dem die Wikipedia gehört. Anders als im Analogen bewegen wir uns im Digitalen fast nur im kommerziellen Raum. Es geht darum, eine Vision dafür zu entwickeln, wie eine bessere digitale Welt aussehen kann.

Welche Perspektive hat Wikimedia Europe?

Ich wünsche mir, dass Wikimedia Europe ein wichtiger Akteur in gesellschaftspolitischen Debatten über das Digitale auf europäischer Ebene wird. Genau so wünsche ich mir mehr Möglichkeiten für viele Organisationen und Ehrenamtliche, finanzielle Unterstützung zu bekommen. Es ist selbstverständlich, dass wir im analogen Raum Theater und Museen fördern. Wenn wir im Digitalen nicht nur Kommerzialisierung wollen, müssen wir auch dort die öffentliche Infrastruktur finanzieren. Bei dem Einsatz dafür kann Wikimedia Europe eine wichtige Rolle spielen.