Die Macht des Wissens im Wandel
Ein Interview mit Emilia Roig
Als universelles Wissen gilt immer noch das, was als »Universitätswissen« letztlich von ganz wenigen Menschen stammt. Welche Auswirkung hat das?
Eine tiefe Auswirkung, denn bestimmte Formen von Wissen bleiben ausgeblendet. Die Erfahrungen von Ex-Kolonisierten und ihren Nachfahren werden weitestgehend negiert, ihre Perspektiven als subjektiv, als Erfahrungsberichte gesehen – und nicht als Wissen mit großem W. Das Problem ist, dass diejenigen herrschenden Perspektiven als objektiv-neutral gelten, die die Erzählung von Geschichte in Büchern oder in schulischen Kontexten bestimmen. Aufbrechen können wir das nur, indem wir grundsätzlich unsere Vorstellung von Wissen infrage stellen, offen diskutieren, was wir bisher als Wissen konstruiert haben und welche Auswirkungen das hatte – damit wir Alternativen entwickeln und aus anderen Quellen schöpfen können.
Wissen ist ein Gemeinschaftsgut, das allen zugänglich sein sollte – so sehen es auch die Zehntausenden Freiwilligen, die weltweit ihr Wissen in Wikipedia teilen. Wie passt dieser Anspruch mit der westlichen Form der Enzyklopädie zusammen?
Natürlich lehnt sich Wikipedia an das Modell Enzyklopädie an, aber historisch gesehen waren Enzyklopädien nicht zugänglich. Die Quelle des Wissens war exklusiv – und sie war kolonial. Die sogenannte Rassenlehre hatte bis vor relativ kurzer Zeit einen festen Platz in diesen Nachschlagewerken. Deswegen ist es wichtig, dass es ein System von Checks and Balances bezüglich der Macht des Wissens gibt. Woher stammt es, welche Methoden wurden benutzt, stehen diese Methoden nicht im Kontrast zu einem Begriff von Wissen, der zugänglicher und demokratischer ist? Ist Erfahrung auch eine Wissensquelle? All diese Fragen müssen beantwortet werden.
In vielen Köpfen scheint ein vermeintlicher Gegensatz zu existieren: »Exzellenz vs. Vielfalt«. Wie kommt das – und warum ist es hinderlich für einen Paradigmenwechsel hin zu vielfältigem Wissen?
In vielen Köpfen existiert dieses Bild, weil Exzellenz einen Körper hatte, ein Gesicht. Exzellenz wird mit Homogenität verbunden. Mit weißen Männern aus dem globalen Norden. Wer »Exzellenz vs. Vielfalt« denkt, hat diese Norm gar nicht infrage gestellt. Vielfalt kann exzellent sein. Aber in der Exzellenz schwingt Verdienst mit, das Glaubenssystem der Meritokratie – das in diametralem Gegensatz zur Gerechtigkeit steht. Ein Diskurs der Meritokratie wird geführt, um Ungleichheiten und Diskriminierung zu rechtfertigen. Uns wird suggeriert: Diejenigen, die im Moment sichtbar sind, die über Wissen verfügen und Wissen produzieren, haben diese Position verdient.
Sie schreiben, der globale Norden stecke in einer Sackgasse fest und verschließe sich dort anderen, nicht kolonialen Wissensformen. Gibt es einen Ausweg?
Ein Weg wäre, den »Norden« zu dezentrieren. Wenn wir uns nur die Weltkarte anschauen, wie sie aufgebaut ist: Europa steht in der Mitte, proportional viel größer dargestellt als andere Kontinente, etwa Afrika. Das müssen wir offen legen und debattieren. Warum wird die Welt heute fast ausschließlich aus der Perspektive des globalen Nordens betrachtet? Diese Diskurse müssten auch in den Mainstream-Medien stattfinden, an den Universitäten – eben in den Sphären der Macht und der Wissenshierarchie.
Emilia Roig
Emilia Zenzile Roig ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Sciences Po Lyon. Roig lehrte in Deutschland, Frankreich und den USA Intersektionalität, Critical Race Theory und Postkoloniale Studien sowie Völkerrecht und Europarecht. 2021 erschien ihr Buch »Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung«.