Wahljahr 2021: Wikimedia Deutschland und Digitalpolitik
Neue Allianzen, verlässliche Information rund um die Bundestagswahl und eine Stärkung des digitalen Ehrenamts: Im Wahljahr 2021 konnte Wikimedia Deutschland eine Reihe wichtiger digitalpolitischer Akzente setzen. Allerdings bleiben auch Baustellen.
Auf der Computertastatur steht „F5“ für Reload – einen Neustart – auf dem Bildschirm. Das Kürzel passt auch zu dem Bündnis, das sich 2021 aus Wikimedia Deutschland, AlgorithmWatch, Gesellschaft für Freiheitsrechte, Open Knowledge Foundation und Reporter ohne Grenzen zusammengeschlossen hat, um gemeinsam für einen Neustart in der Digitalpolitik einzutreten. Es müsse die Maßgabe einer demokratischen, offenen, inklusiven und transparenten Datenpolitik sein, „Gemeinwohl und Daseinsvorsorge ins Zentrum zu stellen“, so Matthias Spielkamp von AlgorithmWatch in einem Beitrag im Tagesspiegel.
„Gemeinsam als F5 können wir Kapazitäten besser bündeln“, betont Frank Böker, PR-Manager Politik und Recht bei Wikimedia. Das war bereits bei den ersten Auftritten des neuen Bündnisses zu sehen – etwa beim deutschen Internet Governance Forum (IGF-D) oder bei einer digitalpolitischen Gesprächsrunde mit Abgeordneten nach der Bundestagswahl 2021. Dort haben F5-Themen wie die Stärkung von Open Source, Grundrechtsschutz oder moderne Plattformregulierung bereits wirksam die Debatte bereichert.
FollowTheVote und Digital-o-Mat
Die Bundestagswahl war für Wikimedia Deutschland 2021 in mehrfacher Hinsicht ein bestimmendes Thema.
So ging es im Vorfeld darum, eine bestmögliche Orientierung und Informationshilfe unter anderem mit der App FollowTheVote zu geben. Mit ihr kann man die eigenen politischen Überzeugungen mit den Positionen von Parteien abgleichen – sie wird durch Wikimedia Deutschlands Accelerator UNLOCK gefördert.
Orientierung bieten auch Wahlprüfsteine, die im Vorfeld an die Parteien des demokratischen Spektrums geschickt wurden, um ihre Haltung zu Anliegen wie „Öffentliches Geld – Öffentliches Gut“ oder „Zugang zu Freiem Wissen“ abzuklopfen, und der Digital-o-Mat, den Wikimedia gemeinsam mit netzpolitischen Akteuren wie Bündnis Freie Bildung oder Digitalcourage seit Jahren vor wichtigen Wahlen anbietet. Er hat inzwischen ein Update erfahren, das den passgenaueren Abgleich der eigenen digitalpolitischen Überzeugungen mit dem Angebot der Parteien erlaubt.
Das Augenmerk im Wahljahr lag außerdem darauf, inwieweit Wikimedia mit zentralen Anliegen im Koalitionsvertrag der neu gebildeten Ampelregierung Akzente setzen konnte. Zu begrüßen sei etwa, „dass die Regierung endlich einen Rechtsanspruch auf Open Data einführen will“, hält Böker fest. Auch in Berlin (wo 2021 ebenfalls gewählt wurde) stellt der Koalitionsvertrag in Aussicht, dass „von der Stadt beschaffte digitale Inhalte offen zugänglich sein müssen“.
Schutz des digitalen Ehrenamtes
Ein positives Signal ist auch, dass die Bundesregierung die Bedeutung der Zivilgesellschaft bei der Schaffung von Zugängen zu Wissen anerkennt. „Als in der Politik Tätige haben wir die Verantwortung, diese sehr wirksam tätige, für unsere Demokratie wichtige Zivilgesellschaft zu stärken“, so die SPD-Vorsitzende Saskia Esken als Gästin in der Wikimedia-Salonreihe „ABC des Freien Wissens“.
Explizit erkennt der Koalitionsvertrag nun erstmals auch die Bedeutung des digitalen Ehrenamts an, indem es „von Bürokratie und möglichen Haftungsrisiken“ entlastet werden soll. Das ist ein wichtiges Signal an Communitys wie die Freiwilligen der Wikipedia.
Schwarmintelligenz gegen Desinformation
Wie relevant deren Arbeit ist, zeigt sich auch, wenn es um Desinformation geht – ein Thema in der Pandemie und im Wahljahr. „Das Prinzip der vielen“ bei Wikipedia sei „ein starkes System“, betont Frank Böker. „Die Zusammenarbeit so vieler Menschen sorgt dafür, dass Inhalte, die nicht korrekt sind, schnell erkannt und geändert werden.“ Wikipedia schlägt sich außerdem auch und gerade in Zeiten des Durcheinanders widersprüchlicher Aussagen gut, weil die Ehrenamtlichen-Community sich an Regeln hält, die schon vorher etabliert waren: möglichst neutraler Standpunkt und möglichst verlässliche Quellen.
Was ebenfalls gegen Desinformation wirken könnte: der freie Zugang zu Daten, Publikationen und sonstigen Erzeugnissen, die mit öffentlichem Geld erstellt wurden. Solide erzeugte staatliche Statistiken müssen ebenso leicht zugänglich sein wie hochwertige Bildungsinhalte des öffentlichen Rundfunks. Wikimedias Forderung „Öffentliches Geld – Öffentliches Gut“ ist im Koalitionsvertrag allerdings nicht ausreichend berücksichtigt.
Gemeinsam für den TRIPS Waiver
Eine weitere politische Baustelle, die im Kontext des Freien Wissens bleibt, ist die Forderung nach einer Patentaussetzung für Covid-19-Impfstoffe. Ein Bündnis von NGOs, dem auch Wikimedia Deutschland angehört, hat sich in einem Offenen Brief an Wirtschaftsminister Robert Habeck eindringlich für einen sogenannten TRIPS Waiver bei medizinischen Covid-19-Produkten ausgesprochen, der den Patentschutz und andere geistige Eigentumsrechte vorübergehend aufhebt.
„Die neue Koalition verspricht im Titel ihres Vertrages, mehr Fortschritt zu wagen. Sie muss dieses Versprechen nun auch im Kampf gegen die Pandemie einlösen: freier Zugang zu lebensrettendem Wissen, gerechte Verteilung der Impfstoffe weltweit. Ein neuer Ansatz in internationaler Solidarität statt nationalem Egoismus“, so Christian Katzer, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland und Christian Humborg, Geschäftsführender Vorstand von Wikimedia Deutschland, in einem gemeinsamen Appell.
„Bei aktuellen Ereignissen von großer gesellschaftlicher Bedeutung – wie gegenwärtig beim russischen Angriffskrieg oder in der Covid-19-Pandemie – lässt sich beobachten, dass die Wikipedia viel mehr ist, als eine klassische Enzyklopädie je war oder sein konnte.
Die Frage, was eine wahre Aussage über die Welt ist (…), wird vor unser aller Augen von Dutzenden, teilweise Hunderten Freiwilligen quasi live und enorm transparent beobachtbar ausverhandelt.“
– Leonhard Dobusch im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur – Sendung „Kompressor“