10 Handlungsempfehlungen für das globale Wikimedia-Movement sind im zweijährigen Strategie-Prozess entstanden.
Bis 2030 soll sich Wikimedia zur zentralen Infrastruktur des Freien Wissens entwickeln. An dieser strategischen Ausrichtung orientiert sich das Wikimedia Movement seit fast vier Jahren. Aber welchen Wandel und welche Strategien sind nötig, um das große Ziel zu erreichen? Im Mai 2020 wurden 10 Handlungsempfehlungen und 10 grundlegende Prinzipien für „Wikimedia 2030“ definiert – in einem radikal offenen und mitbestimmten Prozess. Jetzt beginnt die Umsetzung.
„Verbesserung der Nachhaltigkeit unserer Bewegung“, „Verbesserung der Benutzungserfahrung“ oder „Sicherstellung der Gerechtigkeit bei der Entscheidungsfindung“. So lauten einige der Handlungsempfehlungen, die dem Wikimedia Movement die Richtung weisen sollen, um die 2017 beschlossene strategische Ausrichtung zu erreichen: „By 2030, Wikimedia will become the essential infrastructure of the ecosystem of free knowledge, and anyone who shares our vision will be able to join us.“
Insgesamt neun Arbeitsgruppen arbeiteten fast zwei Jahre an den Empfehlungen, die am 12. Mai 2020 veröffentlicht wurden. Vertreten waren in diesen internationalen AGs Präsidiumsmitglieder und Mitarbeitende der Wikimedia Foundation und von Wikimedia Deutschland, Menschen aus verschiedenen Organisationen, die sich ebenfalls für Freies Wissen einsetzen sowie Freiwillige aus der Community. Ende 2020, Anfang 2021 fanden zu den Empfehlungen die „Global Conversations“ statt – koordinierte Online-Meetings, an denen Hunderte Wikimedianer*innen von allen Kontinenten teilnahmen. Hier ging es darum, die Empfehlungen zu priorisieren.
Wachsen aus dem Bottom-up-Gedanken
Zurzeit befindet sich der Wikimedia-Strategieprozess in der „Übergangsphase zur Umsetzung“. Große Vorhaben sind damit verbunden: darunter der Aufbau neuer Governance-Strukturen für das Movement mit einem „Global Council“ an der Spitze, die Konzeption einer Movement Charta, die Installation von regionalen und thematischen Wikimedia-Hubs weltweit, die Förderung unterrepräsentierter Communitys und neue Freiwillige in allen Wikimedia-Projekten zu gewinnen.
„Ein Hub, das kann zum Beispiel die Wikimedianer-Nutzergruppe Westbengalen sein“, beschreibt Lukas Mezger, Vorsitzender des Präsidiums von Wikimedia Deutschland, der selbst in der Arbeitsgruppe „Roles & Responsibilities“ an den Empfehlungen mitgearbeitet hat. Je nach Bedarf könne sich dieses Hub mit Gleichgesinnten zu einer thematischen Gruppe zusammenschließen – als selbstbestimmte Einheit innerhalb der großen Organisation. Dieser Bottom-up-Gedanke sei essenziell, so Mezger, damit das Movement auch in Südamerika, Asien und Afrika wachsen könne. „Wir wollen nicht den Fehler vieler NGOs wiederholen und westliche Teams entsenden, um in anderen Ländern Strukturen aufzubauen.“
Schärfung von Selbstverständnis und Verantwortung
Auch „über die eigenen Grenzen im Kopf hinaus zu denken“ – das sei generell der Ansatz in diesem offenen Strategieprozess, sagt Alice Wiegand, stellvertretende Vorsitzende im Wikimedia-Präsidium, die in der Arbeitsgruppe „Advocacy“ aktiv war. Was aber bedeuten die Empfehlungen nun konkret für Wikimedia Deutschland? „Sie schärfen unser Selbstverständnis und unsere Verantwortung für das globale Movement“, so Wiegand. Die Herausforderung sei, alle Aktivitäten und Programme hinsichtlich der Frage zu beleuchten, ob sie den großen Gedanken unterstützen. „Auch das startet jetzt.“
The Movement Strategy Playbook
Der Strategieprozess „Wikimedia 2030“ hat bereits sehr viele Erkenntnissen produziert. Zusammengefasst sind sie im „Movement Strategy Playbook“, das 21 Wege vorstellt, wie offene Strategien in der Praxis besser angewendet werden können. Eero Vaara, Professor für Organisations and Impact in Oxford, hat ein Vorwort zu diesem „Lessons learned“-Handbuch verfasst.
Professor Vaara, welche Punkte sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten, die sich aus dem Strategieprozess des „Wikimedia 2030“-Movements lernen lassen?
Der Prozess ist ein einzigartiges Beispiel für einen offenen Ansatz in der Strategiearbeit. Daraus lässt sich viel lernen. Der Schlüssel ist Engagement – aber zugleich verlangt die Mobilisierung von Menschen viel Organisation und Arbeit von denjenigen, die diesen Prozess geleitet haben. Eine wichtige Erkenntnis war, dass verschiedene Interessengruppen unterschiedlich angesprochen werden müssen, um das Beste aus ihren Beiträgen herauszuholen. Lernen lässt sich auch, dass der Prozess des Ideenaustauschs und Dialogs wahrscheinlich wertvoller ist als das Endprodukt. Und schließlich wäre all dies ohne Schlüsselpersonen wie Nicole Ebber (Leiterin Movement Strategy und Global Relations) nicht möglich gewesen. Sie treiben den Prozess oder den Enthusiasmus und das Engagement der Teilnehmenden voran.
Wie kann sich Wikimedia in einer globalen offenen Strategie weiterentwickeln?
Der offene Strategieansatz passt perfekt zu dem, was Wikimedia als globale Bewegung ist – und sein will. Die Umsetzung der neuen strategischen Ideen wird denselben Prinzipien der Inklusion und Transparenz folgen, die das Movement ohnehin leiten. Und all dies geschieht – wie es sollte – auf globaler Ebene mit einer großen Anzahl von Menschen, die sich engagieren. Damit wird sichergestellt, dass die globale soziale Bewegung definiert, was Wikimedia ist und was ihre Strategie ist. Der Punkt ist, dass die strategischen Ideen mit der Entwicklung der Bewegungen wachsen – und umgekehrt.
Inwieweit kann dieser Prozess auch eine Blaupause für andere sein?
Es war ein einzigartiger Prozess – aber auch einer, dem andere folgen und von dem sie lernen können. Das gilt nicht nur für soziale Bewegungen, sondern auch für andere Arten von Organisationen. Das „Strategy Playbook“ enthält eine Zusammenfassung der Lernpunkte und Best-Practise-Beispiele für die Organisation und Leitung der Open Strategy-Arbeit. Der Schlüssel für andere liegt darin, nicht einfach kopieren zu wollen, was Wikimedia getan hat, sondern sie finden eine Reihe von Erkenntnissen über die verwendeten Tools und Methoden – und können aus den Erfahrungen von Wikimedia lernen.
3 Fragen an NICOLE EBBER
Director Movement Strategy and Global Relations
Welche Wegmarken und Erkenntnisse der Movement Strategy waren 2020 die wichtigsten?
Ein Meilenstein war die Veröffentlichung unserer 10 Handlungsempfehlungen und Prinzipien für den strukturellen Wandel des Wikimedia Movements. Dahinter steht die Erkenntnis, dass wir uns verändern müssen, um unserer Mission gerecht zu werden. Dass wir ein Signal setzen müssen dafür, dass die Offenheit und Gerechtigkeit die wir vertreten auch in unseren Strukturen verankert wird. Das enzyklopädische Konzept von Wissen, dem wir uns angenommen haben, ist momentan noch sehr auf den globalen Norden fokussiert. Menschen in anderen Teilen der Welt haben andere Methoden, Wissen zu schaffen und weiterzugeben – zum Beispiel über mündliche Überlieferung. Wenn aber das Ziel lautet, das gesamte Wissen der Welt allen Menschen frei zugänglich zu machen, dann müssen wir auch versuchen, alle Teile der Welt einzubeziehen.
Dazu kommt: Die Welt um uns herum ist im Wandel begriffen. Technologien verändern sich, die Kommerzialisierung schreitet voran. Wikipedia ist die letzte Bastion im Kampf für ein offenes und freies Internet, und das einzige Non-Profit unter den 20 größten Websites der Welt. Die Frage ist, wie wir auch in Zukunft an unseren Werten festhalten und gleichzeitig relevant bleiben können in der digitalen Gesellschaft.
Welcher Gedanke steht hinter dem „Global Council“ und der Charta des Movements?
Die Frage, wie sich sicherstellen lässt, dass die Interessen und Bedürfnisse der weltweiten Organisationen und auch der weltweiten Communitys in eine globale Entscheidungsfindung einbezogen werden.
Wenn sich weniger repräsentierte Communitys und Gruppen in globale Entscheidungen einbringen möchten, haben sie derzeit keine direkte Möglichkeit, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Deswegen gibt es Bestrebungen, einen „Global Council“ einzurichten, einen globalen Rat, in dem jedes Mitglied eine Stimme hat. Die globalen Aushandlungsprozesse sollen dann in einem viel demokratischeren, partizipativeren Umfeld vonstattengehen.
Die Charta wiederum ist gedacht als verfassungsgebendes Dokument für den Globalen Rat. Sie soll festlegen, wie Repräsentation gewährleistet wird – und auch mehr Gleichheit und Gerechtigkeit. Sie soll unsere Werte, Prinzipien und Grundlagen der Zusammenarbeit definieren, sowie die Generierung und Verteilung von finanziellen Mitteln weltweit regeln. Dazu gehören auch Verhaltensregeln. Für alle, die sich am Movement beteiligen möchten, gibt es bereits einen Universal Code of Conduct, und Regeln zu dessen Durchsetzung werden gerade entwickelt.
Welche nächsten Schritte stehen jetzt an?
Einer der wichtigsten und dringendsten Schritte für mich ist, die Movement Charta zu verfassen. Denn erst wenn diese verabschiedet ist wird sich wirklicher Wandel im Movement einstellen. Daran beteilige ich mich momentan mit einer Gruppe, die sich organisch zusammengefunden hat. Neben der Charta gibt es natürlich noch viele weitere Initiativen, und dazu stehen weitere Online-Treffen zur Klärung an, wer global an welchen Themen arbeiten möchte. Bei Wikimedia Deutschland nehmen wir die z. B. Frage in den Fokus, wie wir marginalisiertes Wissen besser adressieren und abbilden können, unter anderem wird es eine Salonreihe zu „Knowledge Equity“ geben.
Ein weiterer wichtiger Schritt auf allen Ebenen ist, mehr Zusammenhalt und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen, und uns auch mit Partnern zusammen zu tun. Wir stehen gegenwärtig vor großen gesellschaftlichen Probleme, etwa Desinformation, Kommerzialisierung, Plattformregulierung – die können wir nur geeint angehen.