Fast 7 Mio. mal wurden im Jahr 2020 die unter CC freigegebenen Terra-X-Videos auf Wikipedia und Wikimedia Commons abgerufen.
2020 konnte Wikimedia in der Digitalpolitik wichtige Akzente setzen – auf nationaler und globaler Ebene. Entscheidende Impulse sind in die Datenstrategie der Bundesregierung aufgenommen worden. Und auch in der WIPO – der World Intellectual Property Organisation (Weltorganisation für geistiges Eigentum) mit Sitz in Genf – knüpft Wikimedia nun Netzwerke. Auch gegen Widerstände.
Das Bewusstsein dafür, dass „Open Data“ und „Open Source“ nicht nur technische Begriffe sind, sondern vor allem eine gesellschaftspolitische Dimension haben, wächst zusehends. Seit vielen Jahren setzt sich Wikimedia dafür ein, eine gemeinwohlorientierte Digitalisierung zu stärken und in politischen Entscheidungsprozessen zu verankern. Bei immer mehr Entscheidungstragenden ist dieser Gedanke nicht nur angekommen, sondern wird aktiv aufgenommen und in konkrete Politik umgesetzt.
Ein Beispiel ist die Datenstrategie der Bundesregierung, die 2020 veröffentlicht wurde. Im Vorfeld hat das Bundeskanzleramt gezielt auch die Beteiligung von Wikimedia Deutschland gesucht. „Unser Feedback wurde frühzeitig abgefragt und an verschiedenen Punkten sofort aufgenommen“, so Lilli Iliev, Projektmanagerin Politik bei Wikimedia. So heißt es nun etwa gleich im ersten Teil der Strategie: „Das Verständnis dafür, dass Daten auch öffentliches Gemeingut sein können, ist hierbei ein zentraler Faktor, damit weltweit das große Potenzial von Daten für wirtschaftliche und soziale Entwicklung genutzt werden kann.“
An insgesamt neun Stellen der Datenstrategie der Bundesregierung ist die Bedeutung von Gemeinwohl und gesellschaftlicher Teilhabe vermerkt.
Chinas Veto gegen Wikimedia
Auch auf globaler Ebene findet Wikimedias Stimme verstärkt Gehör. Mit Justus Dreyling, Projektmanager Internationale Regelsetzung, gibt es nun einen Wikimedia-Vertreter bei internationalen Verhandlungsrunden – etwa in internationalen Organisationen. Hierzu zählt insbesondere die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), eine UN-Sonderorganisation mit Sitz in Genf. Hier beteiligen sich fast alle Staaten an Diskussionen darüber, welche Standards zum Schutz geistigen Eigentums gelten aber auch welche Nutzungen in grenzüberschreitenden oder Online-Kontexten gestattet sein sollten.
Zivilgesellschaftliche Organisationen können sich bei der WIPO als Beobachtende bewerben. Gewöhnlich ist das eine Formalität. Im Falle von Wikimedia wurde der Antrag allerdings abgelehnt – auf Initiative Chinas. Die offizielle Begründung lautete, dass sich unter den 41 offiziell anerkannten Wikimedia Chaptern auch eines in Taiwan befinde, was Chinas territoriale Integrität verletze. An den Treffen der WIPO nimmt Dreyling trotzdem teil – über den internationalen Verband COMMUNIA, in dem auch Wikimedia Mitglied ist.
„Zurzeit geht es vor allem darum, Kontakte zu den einzelnen Delegationen zu knüpfen und Netzwerke Gleichgesinnter aufzubauen. „Wir haben zum Beispiel daran mitgewirkt, dass eine formellere Koalition von zivilgesellschaftlichen Organisationen entsteht, die auf urheberrechtliche Reformen hinwirken“, so Dreyling, der über seine Arbeit regelmäßig bei netzpolitik.org bloggt – unter dem Titel „Blackbox Genf.“
„WIR SIND OFT DIE EINZIGEN OHNE KOMMERZIELLE INTERESSEN“
Ein Gespräch mit Dimitar Parvanov, Wikimedian in Brüssel, über erfolgreiches Lobbying und die Wikipedia als Einhorn.
Welche Themen waren 2020 die bestimmenden in Brüssel?
2020 war das Jahr der Konsultationen. Die Europäische Kommission hat so viele öffentliche Konsultationen durchgeführt, dass es zum Teil schwer wurde, den Überblick zu behalten. Themenschwerpunkte waren die Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie, eine neue Regelung zu elektronischen Beweisstücken und eine zu terroristischen Inhalten online. Es ging um den Digital Services Act, den Digital Markets Act und einen neuen Code of Practise, einen Verhaltenskodex für Online-Dienstleister bezüglich Desinformation. Es stand wirklich einiges an!
Wo und wie konnte Wikimedia sich einbringen und Erfolge erzielen, etwa beim Thema Urheberrecht?
Die Uploadfilter, gegen die im Zusammenhang mit der Urheberrechtsrichtlinie auch in Deutschland demonstriert wurde, konnten wir am Ende nicht verhindern. Wir konnten aber erfolgreich sicherstellen, dass nicht-kommerzielle Plattformen wie Wikipedia, überhaupt jedes Forum eines eingetragenen Vereins, von dieser Filter-Regelung ausgenommen ist. Ein weiterer Erfolg ist, dass die Digitalisate von gemeinfreien Werken geschützt sind und gemeinfrei bleiben. Teilweise haben Museen versucht, dagegen vorzugehen.
Es gab die berühmte Klage der Reiss-Engelhorn-Museen gegen einen Wikipedia-Nutzer und Wikimedia wegen des Fotos eines Richard-Wagner-Porträts auf der Wikipedia – die sie vor dem BGH gewonnen haben. Mittlerweile aber hat der Bundestag die Urheberrechtsreform angenommen, womit diese Digitalisate nun garantiert gemeinfrei bleiben. Das öffnet einiges.
Wie viel der Arbeit spielt sich unterhalb des Sichtbarkeitsradars ab?
Es gibt ständig Fälle, in denen wir Vorhaben entscheidend korrigieren können, ohne dass die breite Öffentlichkeit davon erfährt. Vieles geschieht in Gesprächen in Brüssel oder natürlich online auf Expertenniveau mit Interessenvertreterinnen und -vertretern.
Als Beispiel dient die geplante neue Richtlinie für elektronische Beweisstücke (E-Evidence Regulation). Dabei geht es im Kern darum, wie beispielsweise eine Staatsanwältin aus Litauen im Rahmen einer Untersuchung oder eines Verfahrens elektronische Beweismittel von einem anderen EU-Land anfordern kann, z. B. von Facebook in Irland. Im Entwurf war vorgesehen, dass die Staatsanwaltschaften künftig ohne richterlichen Beschluss traffic data anfordern dürfen. Im Falle von Wikipedia ist es so, dass die traffic data zeigen, welche IP-Adresse welche Wikipedia-Seite aufgerufen hat. Das ging uns doch zu weit – und es wird nun auch zurückgenommen.
Wir sehen es leider oft, dass offene und von Nutzenden generierte Plattformen bei den Vorhaben in die Überlegungen nicht einbezogen werden.
Welche sind die größten Hürden beim Lobbying vor Ort?
Die Schwierigkeit ist nicht, Gehör zu finden. Gerade die Wikipedia genießt enorme Wertschätzung, spätestens seit das Problem mit Desinformation so gewachsen ist. Mittlerweile wird Wikipedia fast universell als der gute Ort im Internet gesehen und gilt als die Einhorn-Ausnahme. Fraglich und schwer zu beantworten ist, ob dieses Konzept auf andere Orte im Internet übertragen werden kann.
Die größte Hürde im Gesetzgebungsprozess besteht darin, andere davon zu überzeugen, dass unsere Anliegen ein echtes Problem darstellen. Politikerinnen und Politiker befassen sich ungern mit Themen und Problemen, die nicht unbedingt gelöst werden müssen. Jede Entscheidung bringt ihnen Sympathien bei der einen Gruppe, kostet sie aber Sympathien bei der anderen. Wenn wir ein Problem mit der Panoramafreiheit in Frankreich beklagen (z. B., dass wir das Centre Pompidou nicht frei fotografieren und auf Wikipedia stellen dürfen), werden wir sofort gefragt: „Wurden Sie dafür schon verklagt?“ Wenn keine Klage vorliegt, wird dem Problem keine hohe Priorität beigemessen.
Welches Anliegen hat Wikimedia beim Digital Services Act – und wie ist der Stand?
Mit dem Digital Services Act soll generell die Moderation von Inhalten online geregelt werden. Die EU hat sich gefragt: Es gibt jetzt eine Regelung für urheberrechtliche Inhalte, eine weitere für terroristische Inhalte – wie viele Einzelregelungen sollen noch kommen? Also ist die Idee, einen einheitlichen Rahmen zu schaffen. Und das begrüßen wir auch. Sogenannte notice & action-Prozeduren sollen auf EU-Ebene kodifiziert werden, das heißt, wenn ich im Internet vermutlich illegalen Content entdecke, der meine Rechte und Freiheiten einschränken könnte, darf ich den Anbieter auffordern, ihn zu entfernen. Das soll in einem klaren gesetzlichen Rahmen geregelt werden, der Schutz für beide Seiten, die Anbietenden und die Nutzenden, bietet.
Ein Problem ist aber, dass einmal mehr nur Facebook, Google und Flickr in die Überlegungen einbezogen wurden – und nicht Plattformen, auf denen ehrenamtliche Online-Communitys einen Großteil der Moderation übernehmen. Der Digital Services Act würde für uns dazu führen, dass Anwälte der Wikimedia Foundation gehäuft in Community-Diskussionen und Entscheidungen eingreifen müssten.
Welche Themen werden in näherer Zukunft für Wikimedia in Brüssel wichtig?
Der Digital Services Act wird das Hauptthema für die kommenden Jahre sein. Interessant ist auch eine geplante Regelung zur Künstlichen Intelligenz, bei der es darum geht, gesellschaftliche Biases zu minimieren und Algorithmen diskriminierungsfreier zu gestalten. Weil unsere Projekte wie Wikidata zu den größten frei verfügbaren Datenbanken zählen, werden sie oft dafür genutzt, KI zu trainieren. Deshalb ist es wichtig für uns, dass hierfür ein sinnvoller Rahmen gefunden wird.
Auch dieses Gespräch wird noch lange andauern. Es wichtig, dass wir als Communitys und als Netzwerk Teil von nicht-kommerziellen Vereinen bleiben. Wir sind leider zu oft die Einzigen im Raum, die keine Profitabsichten verfolgen. Es ist wichtig, dass unsere Stimme vertreten wird, gerade auch in Brüssel.
3 Fragen an Tankred Schipanski – digitalpolitischer Sprecher der Unionsfraktion
Welche Rolle innerhalb des Verbändespektrums nimmt Wikimedia Deutschland aus Sicht der parlamentarischen Arbeit ein?
Wikipedia ist mit seiner Enzyklopädie weltweit und in Deutschland einmalig. Die freie Wissensbereitstellung ist für uns ein sehr fördernswertes Projekt. Darauf geben wir auch in der Gesetzgebung acht. Als Digitalpolitiker versuchen wir zum Beispiel, die großen Plattformen mehr Verantwortung zu unterwerfen. Gleichzeitig wollen wir darauf achten, dass das Modell von Wikipedia dabei keinen Schaden nimmt.
Unterscheidet sich der Umgang der Abgeordneten mit zivilgesellschaftlichen Organisationen von dem mit anderen Interessenvertretungen?
Es gibt eine große Anzahl sehr verschiedener Interessenvertretungen. Grundsätzlich versuche ich aber, mit allen Interessen nach den gleichen Regeln zu verfahren. Entscheidend ist für mich: Ist das Argument überzeugend?
Dabei ist die Funktion der Interessengemeinschaft für mich zweitrangig. Es geht vielmehr um die Erfahrung aus der Praxis und ungewollte Konsequenzen, welche die Regulierung für eine Gruppe möglicherweise auf eine andere Gruppe hat.
Sehen Sie Ansatzpunkte für die Digitalpolitik, den sogenannten Dritten Sektor, also gemeinnützige Netzprojekte wie Wikipedia und Wikidata, durch gute Rahmenbedingungen zu unterstützen?
Bisher haben wir stets darauf geachtet, dass Wikipedia bei den umfassenden Regulierungsvorhaben großer Plattformen möglichst weit ausgenommen ist. Damit wollen wir gute Rahmenbedingungen für Wikipedia schaffen, die kostenlose Wissensaufbereitung weiter umfangreich und praktikabel zu ermöglichen. Ferner wollen wir mit der allgemeinen Stärkung der Wissenschaft die Informationsgenerierung und Aufbereitung unterstützen. Mehr und gute Informationen kommen dann auch den Projekten von Wikimedia zugute.