60 Teilnehmer*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nahmen am Netzwerktreffen FemNetz teil.
Wie kann die Wikipedia diverser werden? Diese Frage stand im Fokus einer Reihe von Veranstaltungen, darunter ein Edit-a-thon zum Weltfrauentag. Mit FemNetz ist zudem ein neues Bündnis angetreten, das einen Feminismus vertritt, an den alle anknüpfen können.
„Bildet Banden!“ Unter diesem Motto trat die Initiative FemNetz zu Beginn des Jahres 2021 an. Bei einem Online-Treffen mit über 60 Teilnehmenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kam das Bündnis erstmals zusammen. In dem Netzwerk sind Einzelpersonen und Gruppen wie WomenEdit, Art+Feminism oder Who writes his_tory? vertreten, die dasselbe Ziel eint: die Wikipedia zu einem diverseren und inklusiveren Ort zu machen.
Dabei geht es nicht nur um den viel diskutierten Gendergap, also die Unterrepräsentanz von Frauen sowohl in der Wikipedia als auch in den Communitys. „Wir wollen neue Werte etablieren, um die Zukunftsfähigkeit der Wikipedia zu gewährleisten“, betont die Wikipedianerin Sandra Becker, die bei WomenEdit aktiv ist und zu den Initiatorinnen von FemNetz zählt. Drängende Themen seien etwa „Nachhaltigkeit, der Umgang miteinander, die Frage, wie wir marginalisierten Gruppen Raum geben und uns für queere Themen mehr öffnen können.“ Niemand soll sich ausgeschlossen fühlen, oder, wie Becker es auf den Punkt bringt: „Alles, was zu mehr Wissen führt, ist wichtig für die Wikipedia.“
Explizit ist FemNetz dabei offen für Männer, die an den gleichen Themen interessiert sind und sich einbringen möchten. Es geht aber darum, ein gesellschaftliches Framing aufzubrechen, in dem das generische Maskulinum selbstverständlich dominiert und vorwiegend Männer bestimmen, welche Themen für die Wikipedia relevant seien oder eben nicht. Gerade angehende Wikipedianerinnen würden oft vom harschen Ton im digitalen Raum abgeschreckt und ihre Artikel schnell wieder gelöscht, erzählt Becker.
Sie hat aber auch die Erfahrung gemacht, dass vielen Wikipedianern nur das Gespür dafür fehle, was andere verletzen könnte – und im persönlichen Austausch viel Reflexion angestoßen werden kann.
Edit-a-thons für mehr Geschlechtergerechtigkeit
Mehr Sichtbarkeit für Frauen in der Wikipedia – darum ging es 2020 auch in zwei Edit-a-thons. Begleitend zur Berlinale trafen sich engagierte Frauen und Wikipedianerinnen, um in einer zweitägigen Schreibwerkstatt Artikel zu einer Vielzahl von Schauspielerinnen, Regisseurinnen und Filmemacherinnen zu verfassen, die bislang in der Online-Enzyklopädie noch nicht ihren Platz hatten.
Bei einem weiteren Edit-a-thon zum Weltfrauentag am 8. März versammelten sich Wikipedianerinnen in München, Köln, Berlin und Hannover, um die Wikipedia mit Biografien von Frauen mit Schwerpunkt auf ihrem Werk und Wirken zu füllen. Bislang beschreiben nur etwa 15 Prozent der Biografien Frauen.
Unter anderem um diese Schieflage ging es auch in der Folge „XY ungelöst“ der Salonreihe „ABC des Freien Wissens“, die Lilli Iliev für Wikimedia Deutschland initiiert hat. Gäste waren hier unter anderem die Publizistin Ferda Ataman (s. 3 Fragen an) sowie Christel Steigenberger, langjährige Wikipedianerin und Trust & Spezialist bei der Wikimedia Foundation.
Die Stärke kollektiver Autor*innenschaft
„Schon vor FemNetz haben sich tolle Frauen engagiert, um mehr Räume in der Wikipedia zu schaffen“, betont die Schweizer Künstlerin und Wikipedianerin Chris Regn, die Teil des barrierefreien Kunstraums „Kaskadenkondensator“ in Basel ist und sich bei Who writes his_tory? einbringt. Sie nennt die Österreicherin Magdalena Reiter, die Deutsche Christina Dinar und die Schweizerin Muriel Staub, die sämtlich eine lange Historie des Einsatzes für mehr Diversity im Kontext der Wikimedia-Projekte haben.
„All diese Frauen haben mir bewusst gemacht, was auch gut läuft in der Wikipedia“, so Regn.
Bei FemNetz bringt sie selbst ihre Erfahrungen aus der Schweiz ein, wo sie und Mitstreiterinnen etwa unter dem Titel „Lebende Meinungsbilder“ gezielt Menschen und Gruppen einladen, um sich darüber auszutauschen, wie Wikipedia diverser werden könnte und welche Öffnung es braucht.
„Das Wichtigste ist, dass es Unterstützung gibt, dass niemand allein schreiben muss“, findet Regn. Sicher, viele verfassten ihre Texte Artikel am liebsten allein zu Hause. „Aber man kann auch gemeinsam am Tisch Artikel schreiben und diskutieren.“ So praktizieren sie es bei Who writes his_tory? „Uns geht es um kollektives Arbeiten, kollektive Autorschaft – das ist für uns die Stärke von Wikipedia.“
3 Fragen an Ferda Ataman
Welche Perspektiven fehlen Ihnen in der Wikipedia? Wo macht sich konkret bemerkbar, dass mehr Diversität nötig wäre?
Ein Beispiel, das ich bemerkenswert finde: Der enzyklopädische Eintrag zum „Hauskaninchen“ ist viermal so lang wie der zum Begriff „Gastarbeiter“. Ich würde behaupten, dass die sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter für die deutsche Gesellschaft doch mehr Bedeutung haben. Daran merkt man aber, wie die Kräfteverhältnisse und Interessen bei den Wikipedianerinnen und Wikipedianern sind. Die Kompetenz rund um die Themen Einwanderungsland und Einwanderungsgesellschaft scheint mir sehr einseitig ausgeprägt zu sein. Es gibt auch viele bekannte Personen of Colour, die keinen biografischen Eintrag in der Wikipedia haben. Ein YouTube-Star wie Rezo ist zu finden, einen Tarik Tesfu sucht man vergebens, obwohl er schon eine Sendung beim NDR moderiert hat. Davon gibt es viele Beispiele.
Generationen sind mit einem Wissenskanon erzogen worden, der beispielsweise postkoloniale Perspektiven völlig ausgeblendet hat. In der Schule wurde ihnen beigebracht, Kolumbus habe „Amerika entdeckt“ – was heute zu Recht als imperiale Lesart von Geschichte gilt. Kann eine Enzyklopädie Prozesse eines lebenslangen Lernens abbilden?
Wikipedia bildet diese Prozesse noch am besten ab. Schon dadurch, dass den Artikeln längenmäßig keine Grenzen gesetzt sind, ist es möglich, verschiedene Standpunkte und auch Kontroversen zu beschreiben – wofür sich ja viele Beispiele finden, gerade auch jetzt in der Corona-Pandemie. Leider glückt Wikipedia die Abbildung strittiger Facetten oft nicht bei gesellschaftspolitischen Themen – und speziell nicht in den Bereichen, die Diversität betreffen.
Am Begriff „Indianer“ zeigt sich, wo Wikipedia steht. In dem Eintrag heißt es zwar: „Indianer ist eine Fremdbezeichnung durch die Kolonialisten.“ Den Zusatz hätte es vor 20 Jahren vermutlich noch nicht gegeben. Trotzdem trägt der Eintrag nur den Titel „Indianer“, es ist darin die Rede von der „indianischen Bevölkerung“, und erst im 10. Absatz steht, dass viele so bezeichnete Leute den Begriff ablehnen. Ein begrenzter Horizont zeigt sich für meine Begriffe auch daran, wie Biografien gestaltet sind. Gerade bei Menschen mit Migrationsgeschichte oder solchen, bei denen vermutet wird, sie seien keine Biodeutschen, wird spätestens im zweiten Satz erzählt, woher die Eltern stammen. Ich bin Verfechterin der Auffassung, dass es wurscht ist, wo sich die Vorfahren vermehrt haben.
Wie könnte man in Ihren Augen diversere Communitys gewinnen?
Das ist eine Herausforderung. Ich bin ja viel damit befasst, wie sich mehr Diversität in den Medien erreichen ließe. Am liebsten wollen die Verantwortlichen hören, sie müssten die Stellenausschreibung nur so oder so gestalten, dann ergäbe sich Diversität von selbst. Aber tatsächlich nötig ist ein Kulturwandel in den Organisationen. Und das ist ein langer Prozess. Ein erster Schritt ist, die Botschaft auszusenden – wir wollen diverser werden. Es ist nicht schwer, Menschen anzusprechen. Aber dann braucht es das Vermögen, andere Perspektiven auch wirklich auszuhalten. Das kann Arbeit bedeuten – lohnt sich aber in jedem Fall.
Ferda Ataman
Ferda Ataman ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin. Sie war u. a. Journalistin beim Tagesspiegel und bei Spiegel Online, leitete die Öffentlichkeitsarbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und baute den „Mediendienst Integration“ auf, eine Informationsplattform zu den Themen Migration, Integration und Asyl. Ataman ist Vorsitzende des Vereins Neue Deutsche Medienmacher*innen und Mitbegründerin der neuen deutschen organisationen. Für ihre Arbeit erhielt sie 2019 den Julie-und-August-Bebel-Preis für innovative und emanzipatorische Beiträge zur politischen Bildung. Ihr Buch “Hört auf zu fragen, ich bin von hier!” erschien 2019.